Biografiearbeit als Möglichkeit zur Identitätsstärkung

IPK Biografie Identität Psyche

Autorin: Maria Riedl

Biografiearbeit als Möglichkeit zur Identitätsstärkung im Alter

Biografiearbeit ist als Methode in der Begleitung alter Menschen nicht mehr wegzudenken. Altern ist durch Herausforderungen an die bisher gelebte Identität gekennzeichnet.

Viele lebenswerte Gewohnheiten verändern sich oder müssen aufgegeben werden. Die Identität droht zu zerbrechen. Durch sensibles Vorgehen der Begleiter können Identitätsbedürfnisse erfahren und Lebensfreude kann zurückgewonnen werden.

Gemälde "Menschenbild" von Rudolf Haidutschek

Biografie, Identität und Alter

Im Alter und wenn die verbleibende Lebenszeit spürbar knapp wird, wächst bei manchen Menschen das Bedürfnis, auf ihr Leben zurückzuschauen. Schönes, Kraftspendendes oder Belastendes aus dem Leben kommt in den Vordergrund. Entscheidend ist aber, dass auftauchende Bilder jemandem mitgeteilt werden können. Jemandem, der ohne Bewertung mit Verständnis und Einfühlungsvermögen auf dieses Leben blickt. Jemandem, der diesen Erfahrungsschatz zugunsten des Erzählers nutzt.

Einfühlungsvermögen heißt teilhabendes Zuhören und wichtige Ressourcen herauszuhören. Biografiearbeit ist also Lebenserzählung und Lebensbeschreibung. Biografie wächst bis zum Tod. Biografie und Identität sind unlösbar miteinander verknüpft (Petzold, 2011).

Petzold, der Autor des Fünf-Säulen-Modells bezeichnet Identität auch als „die Antwort auf die Fragen: Wer bin ich - Zu wem gehöre ich?“ (2003, S. 12). Diese Frage erfährt durch zunehmendes Alter, durch Verlusterlebnisse und eventuelle Pflegebedürftigkeit Einbrüche. Identität ist das, was den Menschen ausmacht, der innerste Kern der Persönlichkeit (Riedl, 2012).

Bildung von Identität

Die Identität eines Menschen entsteht aus den Bildern, die das Ich einer Person über sich selbst macht, über die eigenen Handlungen und Wahrnehmungen (persönliche Identität) sowie über die in der Kommunikation mit der sozialen Umgebung erfolgende Bestätigung der eigenen Person (soziale Identität) (Petzold, 2003; Riedl, 2012).

Wandelbare Identität

Der innerste Kern der Persönlichkeit, unsere Identität ist im Verlauf des Lebens mehr oder weniger großen Änderungen unterworfen. Diese sind abhängig von Veränderungen des Lebensraumes und den Veränderungen der Leiblichkeit, besonders von den Veränderungen bedingt durch das Alter.

Zur Kompensation erzählen alte Menschen gern sich wiederholende Geschichten aus vergangener Zeit, wenn sie in vergangenen Gedankenräumen verweilen. Dadurch wird ihre Identität gestärkt. Diese identitätsstabilisierenden Geschichten sind wichtig, weil alte Menschen ihren Lebenssinn aus der Reflexion der Vergangenheit generieren.

Es handelt sich dabei sozusagen um innere Ressourcen des Menschen. Jedoch brauchen die Erzählungen Zuhörer, Anerkennung und Bestätigungen (Petzold, 2003; Riedl, 2012).

Fünf Säulen der Identität:

Was bedeutet nun das Petzold Säulenmodell für die angewandte Biografiearbeit?

Metaphorisch werden die fünf Identitäts­bereiche als Säulen bezeichnet, die die Identität tragen. Die Identitätsbereiche fließen ineinander, ein Bereich wirkt sich auf die anderen aus. Die Säulen sind genderspezifisch zu betrachten.

Den Schwerpunkten ist Bedeutung zuzumessen, weil sie Quellen sind, aus denen Menschen Sinn und Kraft schöpfen (Petzold, 2003; Riedl, 2006; Riedl, 2012).

Dieses Modell gibt Begleitern alter Menschen die Möglichkeit, Eigen- und Fremdressourcen von Menschen in Problemsituationen zu finden und die Balance, die durch kritische Lebensereignisse ins Wanken gerät, wieder herzustellen.

Zur Verdeutlichung eine kurze Beschreibung der fünf Säulen:

Säulen der Identität

Leiblichkeit

Umfasst gute Gesundheit, erfüllte Sexualität, Erleben leiblicher Integrität, Zufriedenheit mit dem eigenen Aussehen, Wohlbefinden und Leistungsfähigkeit. „Sich in seiner Haut wohl fühlen“, „in seinem Körper zu Hause sein“ kennzeichnen die Gesundheitssäule. Veränderungen im Körper, die das Alter mit sich bringt, können die einst stabile Säule gefährden.

Soziales Netz, soziale Beziehungen

Die sozialen Beziehungen, Familie, Freundeskreis, Heimat, KollegInnen bilden die zweite Identitätssäule. Die Identifikation „Ich habe eine gute Familie, einen netten Freundeskreis,“ und die Identifizierung der anderen „Bei euch fühle ich mich wohl, ich plaudere gerne mit euch, da kenne ich mich aus, ich kenne die Umgebung, die Pflanzen, die Berge, die Sprache,“ geben eine stabile Säule der Identität. Neue Gesprächspartner können zur Stabilisierung beitragen!

Arbeit, Leistung, Freizeit

In unserer Kultur haben die Berufstätigkeit, der berufliche Status und die beruflichen Leistungen einen hohen Stellenwert. Fremdattributive Identifizierungen wie „das war immer eine zuverlässige Person“, geben ein gutes Selbstbild. Im Alter kann durch das Wegfallen früherer Aufgaben diese Säule bröckeln, durch Gespräche und Bestätigungen wird die Säule wieder gestärkt.

Materielle Sicherheiten

Geld, Wohnung und Kleidung haben für die Identität große Bedeutung. Fallen diese weg, leidet die Identität enorm. Finanzielle Spielräume eröffnen wichtige Freiräume. Die Abhängigkeit vom Geld des Ehemannes oder der Sozialhilfe können die Identität stark einschränken. Das könnte die Sparsamkeit vieler alter Menschen erklären.

Werte

Werte verkörpern das, was dem Menschen wichtig ist. Sie werden von Glaubenssätzen, Überzeugungen und Einstellungen unterstützt.

Das Bekenntnis zu religiösen, humanitären, politischen, ökologischen oder anderen Werten und die Zugehörigkeit zu Familie, Glaubensgemeinschaften, Organisationen und Vereinen sind wichtige identitätsbestimmende Quellen. Werte werden verkörpert, sie erzeugen eine Haltung und zeigen sich im Verhalten (Riedl, 2006; Riedl, 2012).

Sinn von Biografie- und Identitätsarbeit

In biografischen Gesprächen werden die Schwerpunkte der Identität, der innerste Kern der Persönlichkeit eines Menschen erhoben. Mit dem Vergleich: Was hat sich für den Menschen im Alter verändert, was war früher stärkend und ist in der Gegenwart abhanden gekommen? werden stabilisierende Maßnahmen gemeinsam mit dem zu begleitenden Menschen erarbeitet.
Säulen bröckeln

Bröckelnde Säulen sind zu stabilisieren, indem Identitätsbedürfnisse wahrgenommen werden. So wird der Lebenssinn im Alter trotz Krankheit oder anderer belastender Situationen aufrecht erhalten (Riedl, 2006).

Ziel ist, die Identität eines Menschen, wo immer er lebt, zu stärken.

Die Säulen aus der Auswertung Leiblichkeit, Soziales Netz, Arbeit, Materielle Sicherheit, Werte müssen stabilisiert oder aufgebaut werden. Der innerste Schatz ist wieder gefunden! Identitätsbedürfnisse müssen also erkannt und in Form von Maßnahmen gestillt werden. Säulen eingebrochen

Gelingt das nicht, droht die Gefahr, dass die Säule einbricht. Betroffene Menschen zeigen danach einen Leistungsabfall, emotionale Erschöpfung, Selbstwertkrisen und psychische Symptome wie Aggression oder Rückzug (Petzold, 2003, Riedl, 2012).

Literatur

  • Petzold Hilarion (2011): Meine Biografie - mein intimster Besitz. Moderne Methoden und Konzepte respektvoller Biografiearbeit. Studientag in Salzburg, unveröffentlichtes Manuskript
  • Petzold Hilarion (2003): Lebensgeschichten erzählen. Paderborn: Junfermann-Verlag
  • Riedl Maria (2006): Integratives Pflegekonzept, Band 1: Grundlagen. Norderstedt: Books on Demand
  • Riedl Maria, Mantovan Franco, Them Christa (2012): Heimbewohner sein - eine Herausforderung für die Identität. In: Pflegezeitschrift Kohlhammer 5/2012, S. 280-285


Übung zur Biografiearbeit: Meine vier Fotos

Autorin: Maria Riedl

Deine eigene Lebensgeschichte ist oft eine Schatzkiste für positive Erinnerungen. Zum Ent­decken dieses Schatzes schlage ich eine kleine Aufgabe vor.

Übung:

Nimm vier Fotos aus deiner eigenen Lebensgeschichte. Ein Bild aus der Zeit von 0-7 Jahren, ein Bild von 7-14 Jahren, ein Bild von 14-21 Jahren, ein Bild aus der Zeit von 21 Jahren bis jetzt. Maria auf Dreirad

Ablauf:

Nimm die Bilder einzeln zur Hand und denke nach:

  • Was erzählt das jeweilige Foto über mich?
  • Woran erinnert es mich?
  • Was ist das Verbindende zw. den Fotos und den Lebensabschnitten?
  • Welcher meiner wichtigen Lebensbegleiter sind auf den Bildern zu sehen?
  • Was sagen die Bilder zu meinen identitätstragenden Säulen aus? Baden

Sinn der Übung:

  • Nachdenken über die eigene Geschichte, über Lebensbegleiter und über dein Leben.
  • Diese Übung könnte auch Grundlage für das eigenbiografische Arbeiten im IPK sein.

Maria in Pflegeschule

  • Alle Fotos, die dich an Positives in deinem Leben erinnern, in deiner Wohnung platzieren, dass sie gut sichtbar sind und dir positive Erinnerungen schenken.

Maria auf Urlaub am Ätna

Quelle:

Kühleitner Ch. (2019): Seminar Gruppenselbsterfahrung. Ausbildung zum LSB an der VITAK Salzburg, modifiziert von Riedl, 2019